Vielleicht erinnert ihr euch noch an Lehrer aus eurer Kindheit, die individuell auf euch eingegangen sind, indem sie Lernmittel und Lernmethoden an euch angepasst haben, euch gefördert und gefordert, aber nicht überfordert haben. Neben vielen anderen Merkmalen ist es diese Fähigkeit, Lernprozesse und Lernmittel durch Beobachtung und Analyse der Lerner an deren individuellen Bedürfnisse anzupassen, die einen guten Lehrenden ausmacht. Kann diese so menschliche Kompetenz auch aufs asynchrone E-Learning übertragen werden? Adaptive Lernsysteme wagen den Versuch. Teil 1.
Was sind adaptive Lernsysteme?
Adaptive Lernsysteme (vom englischen „to adapt = sich anpassen“), im Englischen auch Intelligent Tutoring Systems (ITS) genannt, sind schon seit einigen Jahren ein Trend im E-Learning-Bereich. Sie versuchen, die Anpassungsfähigkeit von Lehrenden ins asynchrone E-Learning zu integrieren.
Sie tun dies durch:
- Beobachtung der Aktivitäten der Lerner und deren anschließender Interpretation
- Anpassung an die Bedürfnisse und Lernziele des Lerners
- Dynamische Vereinfachung des Lernprozesses
- Nachahmung von Fähigkeiten menschlicher Tutoren
Praxisbeispiel: Anpassung an verschiedene Lerntypen und -erfolge
Doch wie soll das in der Praxis genau aussehen? Am besten lässt sich das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen:
Marie und Tonio absolvieren in einem Lern-Management-System (LMS ) auf Wunsch ihres Arbeitgebers einen Kurs, der sich mit Dreiecken beschäftigt. Vor Kursstart beantworten beide noch Fragen dazu, wie sie lernen bzw. am besten lernen können. Nachdem sich beide auf der Lernplattform ein Video zu Lerninhalten angesehen haben, absolvieren sie verschiedene Übungen, um das Gelernte anzuwenden und zu festigen. Danach werden ihnen wieder neue Lerninhalte präsentiert. Allerdings ist die Präsentation der Lerninhalte und Übungen im weiteren Kursverlauf nicht für beide gleich.
Das System hat ihre Antworten auf die Frage nach ihren Lernvorlieben ausgewertet und ist zu dem Schluss gekommen, dass Marie eher eine „visuelle Lernerin“ ist, die am besten mit Infografiken, Diagrammen, Bildern und Videos lernt. Dementsprechend werden die Lerninhalte und Übungen für sie eher visuell aufbereitet.
Tonio wiederum lernt offenbar am besten, wenn Interaktion stattfindet und er sich regelmäßig mit anderen Lernern austauschen kann, er ist ein kommunikativer Lerner. Seine Übungsphasen finden deshalb häufiger im Format eines Frage-Antwort-Spiels statt und das System wendet sich öfter mit Feedback und Vorschlägen an ihn. Außerdem schaltet das System ihm einen speziellen Bereich der Plattform frei, wo er sich mit anderen Lernern auszutauschen kann, die den gleichen Kurs absolvieren.
Die Plattform merkt sich zusätzlich im Kursverlauf jeden durchgeführten Mausklick, jede eingegebene Antwort und auch, wie lange Marie und Tonio für verschiedene Aufgabenformate brauchen. Diese gesammelten Daten interpretiert das System und vergleicht sie mit Ergebnissen anderer Lerner bzw. mit vorher eingegebenen Durchschnittswerten. Daraus schließt es, dass Marie das Thema Dreiecke deutlich leichter fällt als Tonio.
Daraufhin wird Maries „Lernpfad“ während des Kurses weiter angepasst. Einige Stationen des Kurses werden übersprungen oder ihr in verkürzter Form präsentiert, es gibt weniger wiederholende Übungen und sie erhält anspruchsvollere Aufgaben und weniger Hilfen als Tonio. Sie erreicht das Kursziel relativ schnell und problemlos. Sie erhält deshalb den Folgekurs „Raumgeometrie“ zugewiesen. Außerdem empfiehlt ihr das System noch einige Vertiefungsaufgaben und „Kopfnüsse“ zum Thema Dreiecke. Falls Marie diese Aufgaben tatsächlich zu bearbeiten beginnt, werden ihr außerdem die Namen von anderen Lernern genannt, die sich ebenfalls gerade im LMS damit beschäftigen.
Tonio hingegen überspringt keine Stationen auf seinem Lernpfad, stattdessen erhält er sogar zusätzliche Stationen und Übungen. Außerdem werden ihm vom System weitere Hilfen gegeben wie zusätzliche Erklärungen und der Hinweis auf passende Artikel eines speziellen Wikis zu Geometrie. Leider erreicht er trotzdem das Kursziel nicht. Daraufhin schaltet ihm die Lernplattform den Kurs „Geometrische Formen“ frei, da ihm offensichtlich noch einige Grundlagen fehlen. Außerdem bringt ihn das System in Kontakt mit Lernern, die nach seiner Auswertung ihrer Datensätze ähnliche Probleme mit dem Lernstoff haben wie er, damit er sich mit ihnen austauschen kann.
Merkmale adaptiver Lernsysteme
In diesem Beispiel finden sich alle Funktionen, die adaptive Lernsysteme auszeichnen können (was in der Realität noch kaum der Fall ist, aber dazu später noch mehr):
- „Learning Analytics“ d. h. Abfrage und/oder Beobachtung und Interpretation der Aktivitäten des Lerners (Abfragen, Mausklicks, Bearbeitungsdauer, Lernverhalten)
- Adaptive Präsentation der Lerninhalte (z. B. nach Lerntyp)
- Dynamische Sequenzierung der Lerninhalte (Überspringen von Lernstationen oder Einbau zusätzlicher Lernstationen)
- Adaptive Unterstützung von Kooperation (Zusammenbringen von Lernern mit gleichen Zielen/Lernbedürfnissen)
- Interaktive Unterstützung beim Problemlösen (Hinweis auf zusätzliche zur Situation passende Lernressourcen, Feedback und Vorschläge)
Vorteile des adaptiven E-Learnings
Adaptives E-Learning bietet im Vergleich zum herkömmlichen E-Learning Vorteile. Die Lerner fühlen sich durch individuelle Lernpfade stärker „da abgeholt, wo sie stehen“ und durch den grundsätzlich höheren Grad an Interaktivität kann auch der Lernerfolg höher und anhaltender ausfallen. Hinzu kommt ein Faktor, den ich schon bei meinem Artikel zum Thema Microlearning angesprochen habe: Adaptive Lernsysteme kommen unserem heutigen Alltag und unseren Bedürfnissen entgegen. In unserer schnelllebigen und digitalisierten Welt wollen wir auch unser Lernen möglichst flexibel, schnell und zielgerichtet gestalten. Wir möchten unsere knappe „Lernzeit“ optimal nutzen und dies gelingt insbesondere dann, wenn uns ein System passende Lerninhalte ermittelt und uns bei unserem individuellen Lernprozess passgenau unterstützt. Es verwundert deshalb nicht, dass das Aufkommen von adaptiven Lernsystemen genau wie Microlearning eng mit dem Aufstieg cloudbasierter Lerntechnologien verbunden ist.
Noch in den Kinderschuhen
Doch noch stecken adaptive Lernsysteme „in den Kinderschuhen“, wie es das eLearning Journal ausdrückt. Die in meinem Beispiel vorkommenden adaptiven Funktionen weist noch kein Lernmanagementsystem (LMS) auf dem Markt in dieser Konzentration auf. Gegenwärtig trifft man am häufigsten auf die dynamische Sequenzierung der Lerninhalte, das heißt Lernstationen werden in ihrer Reihenfolge variiert, weggelassen oder hinzugefügt, um einen individuelleren Lernpfad durch Kurse zu ermöglichen. Der Hauptgrund dafür ist sicherlich neben noch fehlendem Know-how eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung der Anbieter. E-Learning-Inhalte bzw. ganze Kurse ganzheitlich adaptiv und damit interaktiver zu machen, bedeutet einen höheren Zeit- und damit Kostenaufwand.
Man betrachte nur meinen Beispielkurs zu Dreiecken: Allein die Integration einer adaptiven Präsentation der Lerninhalte würde bedeuten, alle Lernmedien und Übungen in mehrfacher Ausführung für jeden Lerntyp (gemeinhin unterscheidet man zwischen vier Lerntypen) zu erstellen. Diesen Aufwand, der letztlich aus ökonomischer Sicht nur eine „Komforterhöhung“ des Lerners darstellt, wird noch oft gescheut.
Beim Thema Adaptive Lernsysteme erinnere ich mich an „Karl Klammer“ („Clippy“, wie er im Englischen hieß). Das war der virtuelle Lernassistent von Microsoft für das Office-Paket. Die eigentlich gute Idee, Computernutzern „Adaptive Learning“ zur Verfügung zu stellen, war damals im Prinzip auf der Höhe der Zeit. Die Umsetzung allerdings war schlecht (zu unflexibel, zu aufdringlich, zu wenig hilfreich)… Glücklicherweise ist seither einiges an Entwicklung passiert!
Erich
Hallo Erich,
ja, Karl Klammer wird in verschiedenen Artikeln zum Thema auch gerne erwähnt. Wobei ich ihn in heutigen Begriffen eher als kontextsensitiven „Performance Support“- Client für eine bestimmte Software (nähere Infos dazu hier [https://www.tt-s.com/mediathek/media/show/was-ist-performance-support-eine-einfuehrung/] charakterisieren und damit etwas von adaptiven Lernsystemen abgrenzen würde, die oft eher als reine LMS oder Lernprogramme daherkommen.
Beim Performance Support ist das Lernen oft ein Nebeneffekt einer durch Assistenz durchgeführten Handlung. Doch genau das ist – laut der psychologischen Theorie dahinter – wie der Großteil unseres Lernens stattfindet.
Grüße
Ulf