Seit Jahren schon geistert der Begriff Digitalisierung in der deutschen Presselandschaft umher. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendein Branchenverband, eine Hochschule oder eine Beratungsgesellschaft eine Studie herausgibt, die Gefahren, Möglichkeiten und Ausmaß dieser vierten industriellen Revolution in Szene setzt. Bei der Vielfalt dieser Publikationen wird es für den Mittelstand und seine Verantwortlichen immer schwerer, diesen Begriff zu fassen und die möglichen Auswirkungen für die eigene Branche und das eigene Unternehmen einzuschätzen.
Was bedeutet Digitalisierung eigentlich?
Digitalisierung kann die Einführung neuer Software und neuer, meist vernetzter Technologien beschreiben. Der Begriff kann ebenso die Modernisierung der Unternehmen beschreiben, in denen durch neue Methoden und Techniken die Abläufe effizienter gestaltet werden. Zugleich wird durch Digitalisierung aber auch die Möglichkeit der Disruption aufgezeigt. Ein Begriff, der oftmals negativ besetzt ist.
- Unter Disruption versteht man einen Prozess, der darauf abzielt, bestehende Marktstrukturen und Geschäftsmodelle radikal abzulösen und zu ersetzen. Dabei wird das eigentliche Ziel durch absolut neue Herangehensweisen erreicht.
- Prominentes Beispiel ist dabei Amazon. Der vordergründige Geschäftszweck ist die Bereitstellung eines spektakulär großen Marktplatzes, auf dem der Kunde zu jeder Zeit, an jedem Ort einkaufen kann. Anders als beim Einzelhandel und sogar Einkaufszentren oder Handelsketten stellen Ort und Zeit keine Hürden für einen Kauf dar. Das ist der eigentliche Clou dieser Disruption. Einfach, schnell und unkompliziert Käufe tätigen zu können.
Wer ist von der Digitalisierung betroffen?
Wir haben es also mit einem höchst undifferenzierten Begriff zu tun. Was jedoch schnell klar wird: Eine Veränderung wird jeder Branche bevorstehen! Wie genau diese Veränderungen im Einzelfall aussehen und wie groß die Konsequenzen für das eigene Unternehmen werden, kann noch kein Mensch vorhersagen.
Es zeichnet sich allerdings schon seit einigen Jahren ab, dass gerade diejenigen Berufe durch Technologie ersetzt werden, deren Tätigkeiten sich einfach automatisieren lassen. Dazu gehören viele Dienstleistungs- und Industrieberufe. Zugleich entsteht aber auch neuer Bedarf an gut ausgebildeten, digitalen Fachkräften. Der Wandel wird durch sie bestimmt und vorangetrieben.
Und die Auswirkungen auf mittelständische Unternehmen?
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland bilden mit einem Anteil von über 90 % das Rückgrat des Wirtschaftslebens. Für diese Unternehmen gilt es, eine besondere Hürde zu nehmen: Digitalisierung aus eigener Kraft. Auf Grund der Betriebsgröße werden viele Mittelständler keine Alternative zur Eigenregie haben. Externe Berater oder zusätzliche Stellen für die Digitalisierung werden sich nur wenige Unternehmen leisten können. In diesem Nachteil liegt aber auch eine große Chance, die, wenn sie genutzt wird, entscheidend sein kann!
Meiner Erfahrung nach sind die Digitalisierungsbestrebungen am erfolgreichsten, die sich nicht als ein einzelnes Projekt begreifen. Erfolgreiche Digitalisierung zielt auf eine Änderung des Unternehmens ab. Es dürfen eben nicht nur einzelne Bereiche, seien es Abteilungen oder Prozesse, transformiert werden, sondern der Ansatz sollte ganzheitlich sein. Hier liegt die große Chance für den Mittelstand. Kleine und mittlere Unternehmen lassen sich einfacher modernisieren und umgestalten als große Konzerne. Es braucht nur den Willen dazu.
Digitalisierung – Umsetzung in der Praxis
Das liest sich jetzt leicht, wird man denken, die Umsetzung ist aber problematischer! An Gegenargumenten mangelt es dem Mittelstand mit seiner manchmal konservativen Haltung natürlich nicht. Viele Unternehmen ächzen unter den aktuellen Begebenheiten. Zu wenig Fachkräfte, hoher Kostendruck und Kapazitätsprobleme. Da bleiben keine Ressourcen, um zusätzlich noch eine Modernisierung der Unternehmen voranzutreiben. Doch gerade diese Probleme lassen sich durch eine intelligente Digitalisierungsstrategie lösen.
Investitionen in Innovationen waren immer dann am erfolgreichsten, wenn sie getrieben waren durch Wettbewerb und Produktivitätsdefizite.
Die Wirtschaftskorrespondentin der taz Ulrike Herrmann hat diesen Zusammenhang in ihrem Buch „Der Sieg des Kapitals“ (Westend Verlag, Frankfurt am Main 2013) großartig beschrieben. Wann immer die Lohnstückkosten dauerhaft auf einem hohen Niveau verbleiben, lohnen sich technische Innovationen. Dadurch steigt die Produktivität und neues Wachstum wird erzeugt.
Was bringt die Zukunft?
Das eigentliche Problem der verantwortlichen Unternehmer und Führungskräfte liegt wahrscheinlich woanders. Es ist die Unsicherheit, die die große Unbekannte Digitalisierung auslöst. Es ist jetzt noch nicht abzusehen, welche Maßnahmen nötig werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Kein Mensch weiß, wohin die Reise gehen wird. Aber das ist überhaupt nicht schlimm. Wir betreten gerade absolutes Neuland. Dabei gibt es keine Landkarte, keine Hinweisschilder und nur wenige Reiseberichte. Wir haben die Chance, Entdecker zu sein, neue Wege zu beschreiten und mit Hilfe von innovativen Technologien und modernen Methoden komplett neue und großartige Arbeits- und Lebenswelten zu schaffen. Das kann zu tiefgreifenden Veränderungen im Leben von Mitarbeitern, Geschäftspartnern und Kunden führen. Ob diese Veränderungen positiv oder negativ ausfallen, liegt an uns!
Work-Life-Balance im Zeitalter der Digitalisierung
Wie kann eine gesunde Form von Work-Life-Balance in einer integrierten Umwelt mit dem Anspruch, überall und jederzeit erreichbar zu sein, gestaltet werden? Welche Möglichkeiten haben Geschäftsführer und Personalverantwortliche, um die Gratwanderung zwischen Informationsdefizit und Informationsüberfrachtung zu meistern? Wie kann ich Kommunikationsbarrieren abbauen und Prozessschnittstellen von „Flaschenhälsen“ zu Beschleunigern entwickeln? Wie kann ich Transparenz und Vertrauen zwischen Kunde und Lieferant schaffen ohne ausufernde Regelungen? Viele Möglichkeiten, diesen und weiteren Herausforderungen zu begegnen, bieten sich durch den Einsatz neuer Technologien. Wir erleben die Auswirkung der Informationstechnologien seit Jahrzehnten und es gibt heutzutage kaum ein Unternehmen, das nicht bereits moderne Kommunikations- und Arbeitsmittel nutzt. Ob Smartphones und Tablets bei Außendienstmitarbeitern, datenbasierte Kalkulationsprogramme oder digitale Archive: Irgendeine moderne Technologie ist fast immer im Einsatz. Und damit haben viele Unternehmen bereits den ersten schritt zur Digitalisierung getan. Es wird Zeit, den nächsten zu gehen!
Der Anfang ist gemacht – was kommt jetzt?
Wir haben jetzt jedoch (noch) keine Anleitung, die jeden Fall und jede Eventualität abdeckt. Aber das ist auch nicht nötig. Die einzigen Voraussetzungen für einen kontinuierlichen Modernisierungsprozess sind eine gesunde Fehlerkultur und Bildung.
- Ich muss Vertrauen in meine Mitarbeiter und meine Unternehmenskultur haben. Die Grundhaltung des Teams sollte frei von Verdachtsmomenten der Faulheit und Drückebergerei sein. Dann kann das Team mit Fehlern auf eine konstruktive Weise umgehen und wichtige Erkenntnisse für zukünftige Herausforderungen und Projekte sammeln. Fehler zeigen, was noch fehlt. Sie sind per Definition nichts Schlechtes.
- Die andere Voraussetzung ist Bildung. Unsere aktuellen Erfahrungen und das heutige Wissen, das den digitalen Kontext entbehrt, reichen nicht aus, um innovative Ansätze bei der Modernisierung von Unternehmen zu entwickeln. Innovationen sind Neuanordnungen bestehender Zusammenhänge, neue Kombinationen bereits bestehender Technologien. Bildung ist dabei ein wichtiger Bestandteil des kreativen Prozesses. Je mehr Informationen zur Verfügung stehen, je mehr Zusammenhänge deutlich sind, desto effektiver kann ein Innovationsprozess ablaufen. Zusätzlich haben sich die Herausforderungen an Führungskräfte gewandelt. Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahren starken Veränderungen unterworfen gewesen. Die jüngere Generation hat es wieder mal geschafft, sich neu zu erfinden und verlangt eine neue Art der Führung. Multikulturelle, dezentrale, mobile Teams und Arbeitsweisen sind auf dem Vormarsch. All das braucht eine neue Art der Führung. Und die will gelernt sein.
Digitalisierung als Chance
Lassen Sie uns die Digitalisierung als Herausforderung – und mehr noch – als eine Chance begreifen. Eine Chance, unsere Unternehmen zu modernisieren, lebenswerte Arbeitswelten zu gestalten und bestehende Probleme zu lösen. Denn gerade dazu ist die Digitalisierung der Schlüssel.
Es herrscht kein Fachkräftemangel; qualifizierte Mitarbeiter gibt es genug. Sie arbeiten aus unserer Sicht nur bei den falschen Unternehmen.
Was ist denn anziehender als ein modernes, nachhaltiges Arbeitsumfeld? Der Kostendruck wird geringer, wenn Unternehmen zu denselben Kosten mehr Leistung produzieren können. Kapazitätsprobleme nehmen ab, wenn Unternehmen Ressourcen optimal einsetzen und durch Vernetzung alle wichtigen Informationen in Echtzeit mit allen Kunden und Lieferanten teilen können. Es gilt entsprechende Entwicklungen zu fördern und die technologischen Möglichkeiten dafür zu nutzen.
Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.
Bis zum nächsten Mal, Merlin Müller