Das Brötchen knirscht und kracht fürchterlich bei jedem Abbeißen des Kollegen, dazwischen hört man sein Kauen und sogar Schlucken. Die eine Kollegin tippt wild auf der Tastatur, die andere schnäuzt sich gerade die Nase, die dritte schlürft geräuschvoll Tee. Auf dem Gang klappern Absatzschuhe, nebenan schlägt eine Tür zu, draußen poltert ein LKW vorbei.
Willkommen in der Welt der Hochsensiblen. Was für andere bestenfalls ein „Hintergrundrauschen“ im Büro ist, nehmen Hochsensible alles sehr bewusst, besonders stark und weitgehend ungefiltert wahr. Und das ist wirklich anstrengend! Denn all diese Reize unterbrechen jeden Gedanken, jeden Satz, den man liest, jedes Wort, das man schreibt. Dabei sind die Gespräche im Raum, die ständig hereinkommenden Leute und das dauernde Telefonklingeln noch gar nicht berücksichtigt …
„Das ist doch ganz normal“ sagen jetzt viele. „Wo ist das Problem? Reg dich doch nicht über sowas auf“. Und sie haben ja eigentlich recht. Aber manche nicken auch mit dem Kopf, weil es ihnen genauso geht.
Hilfe, Reizüberflutung!
15 % bis 20 % der Menschen sind hochsensibel, sagt die Wissenschaft. Manche sind – wie oben beschrieben – besonders gegenüber akustischen Reizen empfindsam, bei anderen sind es wiederum visuelle Reize. Sie sind zum Beispiel besonders lichtempfindlich, punkten dafür aber mit dem sprichwörtlich fotografischen Gedächtnis.
Hochsensibilität – teilweise auch Hypersensibilität genannt – kann sich auf alle fünf Sinne auswirken. Betroffene hören, sehen, riechen, schmecken oder fühlen besonders intensiv. Bei manchen ist es ein einzelner Sinn, der besonders stark reagiert, bei anderen sind es gleich mehrere.
Viele Hochsensible haben auch besondere Antennen für Zwischenmenschliches, sie können sich besonders gut in andere Personen hineinversetzen und erkennen treffsicher deren aktuelle Stimmungslage anhand von Zwischentönen, die anderen verborgen bleiben.
Es sind aber nicht Augen, Ohren oder Nase, die besonders gut „funktionieren“, sondern verantwortlich ist die Verarbeitung der wahrgenommenen Eindrücke im Gehirn. Es ist vereinfachend gesagt „anders verdrahtet“. Bestimmte Reize werden über die Nerven ungefiltert an die Hirnrinde weitergegeben, und das führt schnell zur Reizüberflutung. Ein Abschalten oder Ausblenden unwichtiger Informationen ist nicht so leicht möglich wie bei „normalen“ Menschen.
Introversion als mögliche Folge
Hochsensible Personen meiden große Menschenansammlungen und lebendige Umgebungen, weil sie die vielen Reize als unangenehm empfinden – zum Beispiel Discos und Partys, laute Restaurants, volle Innenstädte oder Supermärkte zu Stoßzeiten. In solchen Situationen sind sie oft wortkarg und in sich gekehrt, denn sie sind mit der Verarbeitung der vielen Reize beschäftigt bzw. überfordert.
Hochsensible sind gerne mal alleine und genießen die Ruhe. In Alltagssituationen, die für andere ganz normal sind, fühlen sie sich dagegen manchmal behindert. Ihre Empfindsamkeit wird zur Empfindlichkeit. Die soziale Interaktion kann darunter leiden.
Die richtigen Rahmenbedingungen im Berufsalltag
Da man einen großen Teil des Tages am Arbeitsplatz verbringt, kommt den passenden Rahmenbedingungen für Hochsensible eine große Bedeutung zu. Lebendige Großraumbüros oder volle Kantinen sind Gift für Hochsensible. Meetings oder „Brainstormings“ mit vielen Personen empfinden sie manchmal als schwierig, da Hochsensible hier mit ihrer Wahrnehmung oft bereits ausgelastet sind und daher nicht so viele eigene Redebeiträge leisten können – zu viel Durcheinander. Dafür können Hochsensible aus diesen Situationen aber sehr viel mitnehmen und später (alleine in Ruhe) ganz viel daraus entwickeln.
Folgende Tipps können helfen, Störfaktoren zu reduzieren und die Konzentration und Produktivität zu fördern:
- Einzelbüros oder Räume mit wenigen Kollegen
- Regelmäßige kleine Pausen mit Ortswechseln
- Ohrstöpsel oder Noise-Cancelling-Kopfhörer
- Öfter mal kurz die Augen schließen
- Keine Türen oder Gänge hinter sich, da akustische Reize „hinter dem Rücken“ als noch unangenehmer empfunden werden
- Eine Aussicht ins Grüne (was allgemein als beruhigend gilt, wirkt auf Hochsensible noch positiver)
- Homeoffice-Tage
- Ruhige Mittagspausen (gerne z. B. bei einem Spaziergang)
- Genug Schlaf (nein, nicht auf der Arbeit 😉 , aber nachts, da das Gehirn dann bekanntlich die Reize sortiert und ablegt)
Hochsensibilität im Beruf als Stärke nutzen
Hochsensibilität ist natürlich nicht immer behindernd, sie ist auch eine Gabe. Ich zum Beispiel bin akustisch hochsensibel. Einerseits bin ich – wie oben beschrieben – im Alltag dadurch manchmal belastet. Aber ich kann minimalste Unterschiede in Tonfrequenzen wahrnehmen, die nur für extrem wenige andere Menschen hörbar sind (wie ein Test vor vielen Jahren ergeben hat). Oder ein anderes Beispiel: In einer Fernsehsendung hat jemand Musikstücke nach 0,3 Sekunden Anspielzeit erkannt (das ist echt kurz!), da habe ich gemerkt, dass ich das auch kann. Und am Wohnort meiner Kindheit konnte ich am Geräusch der vorbeifahrenden Autos die Bewohner des halben Dorfes erkennen.
Welchen Einfluss das auf meine Arbeit hat, habe ich mich allerdings erst kürzlich zum ersten Mal gefragt. Wäre ich vielleicht besser Klavierstimmer, Tontechniker oder Sounddesigner geworden? Kann man die ausgeprägte Sinneswahrnehmung beruflich als besondere Stärke nutzen?
Zu den beruflichen Stärken von Hochsensiblen zählen generell oft:
- Ausgeprägter Blick für Details
- Große Sorgfalt und Qualitätsbewusstsein
- Besondere Kreativität
- Gute Übersicht und Blick für Zusammenhänge (inklusive der Details)
- Gutes Reflexionsvermögen
- Gutes Gedächtnis, dadurch viel wertvolles Wissen
- Lösungsorientierung
- Nuancenreiche Wahrnehmung
- Viel Empathie
- Gute Teamfähigkeit, hohe soziale Intelligenz
- Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
- Wissbegierde und ausgeprägte Lernfähigkeit
Es heißt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, arbeiten Hochsensible meist sehr engagiert und gewissenhaft, schnell und effizient. Sie sind oft kreativ, sehr teamfähig und äußerst verlässlich. Sie haben meist einen besonderen Blick für Funktion und Ästhetik oder auch für die Optimierbarkeit von Prozessen. Davon können potenzielle Kunden und der Arbeitgeber profitieren!
Hochsensible können somit besonders auf Berufsfeldern punkten, …
- … bei denen die sinnliche Wahrnehmung eine Rolle spielt – zum Beispiel Design, Produktenwicklung, Medien, Marketing, Sprache, Kunst, Fotografie, Musik, Akustik, Gastronomie, …
- … bei denen viel Empathie gefordert ist – etwa in der Medizin, Pflege, Psychologie, Beratung, …
Was bedeutet das für dich, wenn du hochsensibel bist?
Problem oder Gabe? Beides! Erst einmal sind die Erkenntnis und die Akzeptanz wichtig, dass es sich um ein Merkmal deiner Person handelt, das wahrscheinlich einen Einfluss auf dein (Berufs-)Leben hat. Wie groß, wie nützlich oder wie belastend dieser Einfluss ist, kannst du zu einem gewissen Grad steuern. Sei dir bewusst:
- Hochsensibilität ist sehr individuell. Ihre Ausprägung und wie man damit umgeht, sie als Belastung wahrnimmt oder als Stärke einsetzt, kann von Person zu Person sehr unterschiedlich sein. Es gibt Tests wie diesen, bei dem man seine Hochsensibilität prüfen kann, indem man 30 Aussagen als unterschiedlich zutreffend bewertet. Wahrscheinlich geht es dir wie mir und viele Aussagen treffen voll zu, andere aber nicht.
- Die Persönlichkeit ist natürlich sehr vielschichtig. Vor allem die Stärken und Schwächen sind von sehr vielen Faktoren abhängig. Hochsensibilität ist nur einer davon! Insofern sollte man sie auch nicht überbewerten. Die oben genannten beruflichen Stärken und daraus abgeleiteten Berufsfeld-Empfehlungen sind insofern etwas holzschnittartig und müssen eher vage bleiben. Aber: Sie können dein Bewusstsein schärfen und vielleicht als grober Ansatzpunkt für deine berufliche Entwicklung und Zufriedenheit dienen – neben vielen anderen Gesichtspunkten!
Hast du weitere Tipps für Hochsensible? Hast du es geschafft, deine Gabe beruflich zu nutzen? Teile im Kommentarfeld gerne deine Erfahrungen als hochsensibler Mensch!
Hallo Thomas,
vielen Dank für deinen informativen und mutmachenden Beitrag.
Mir hat das Resilienz-Training geholfen, besser mit den Herausforderungen meiner Hochsensibilität zurechtzukommen. So war es z.B. hilfreich, aktiv zu akzeptieren, dass ich hochsensibel bin, und nicht mehr dagegen anzukämpfen. Auch die Übernahme der Selbstverantwortung (wenn mich etwas belastet, ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es sich ändert, das kann niemand anders für mich tun), das Grenzensetzen und die Vernetzung mit anderen HSP haben dazu beigetragen, dass ich gelassener mit meiner Hochsensibilität umgehen und meine Erfahrungen an andere weitergeben kann.
Herzliche Grüße
Sabine
Hallo Thomas, der Artikel war enorm informativ für mich. Mit meiner HSP gehe ich inzwischen souverän um und kann mich somit sofort positionieren und spüre sobald ein berufliches Umfeld ungeeignet ist. Dennoch als eher kontaktfreudiger Mensch zähle ich mich weniger zu den „typischen HSP“ . Bei mir ist ein geringerer Geräuschpegel und eigenständiges Arbeiten und kleine Pausen produktiv. Als gelernte Betreuungskraft will ich mich nun Richtung Schulbegleitung wenden und wäge gegenwärtig ab, was realisierbar ist. Anderen HSP will ich sagen: Eine große Erleichterung kann es bedeuten, wenn die HSP von Grund auf als Geschenk gesehen wird und die Bereitschaft da… Weiterlesen »
Guten Tag, Ich bin auch so zart beseitet, arbeite im therapeutischen Bereich und bin sehr gut darin mich in andere hineinzufühlen. Spaziere regelrecht in der Seele und Gedanken des Gegenübers mit. Somit erkenne ich sehr schnell die Probleme und da ich dazu emphatisch bin und nicht so schnell Urteile öffnen sich die Patienten schnell…. im Klinischen Alltag bekomme ich Komplimente weil ich mich auch immer mit den anderen Berufsgruppen vernetzt fühle. Ich habe auch ein Fotografisches Gedächtnis. Trotzdem es strengt mich an , ich schaffe es nicht eine Vollzeit stelle zu haben, was gerade der Fall ist, denn es fehlen… Weiterlesen »
Sehr schöner Beitrag, es tut schon gut, davon zu hören, dass man sich nicht einfach nur anstellt. Bei meiner Arbeit im analytischen Labor nutzt mir die Hochsensibilität oft, um komplexe Zusammenhänge zu erkennen und Lösungswege zu finden. Die positiven Aspekte werden gerne genommen, aber es wird keine Rücksicht auf die problematischen Aspekte genommen. Das halte ich für sehr dumm. Denn mit besseren Rahmenbedingungen könnte ich auch in anderen Bereichen bessere Leistung abgeben und es würde mir auch besser gehen. Zum Beispiel sitze ich im Großraumbüro. Vor einem Jahr hatte ich dort einen Platz zu zweit in einer Nische mit hohen… Weiterlesen »
Jetzt verstehe ich mich erst! Ich dachte immer, ich wär nicht normal.
Hallo Herr Horn besten Dank. Ich habe schon seit Jahren Kenntniss meiner Hochsensibilität und einiger der damit verbundenen Gaben. Eine wesentliche ist eine, die für mein Beruf Gold wert ist und die mich doch in eine tiefe Krise gestürzt hat. Ich bin als Informatiker für die Gestaltung und den Betrieb eines ERP Systems in einem mittelständischen Unternehmen verantwortlich. Die besondere Fähigkeit liegt u.a. darin, dass ich die Gesamtzusammenhänge, die Abläufe, die Abhängigkeiten, die Schwachstellen, Prinzipien… etc. unseres IT-Systems, unserer Geschäftsprozesse und der handelnden Personen vernetzt in mir abgespeichert habe. Bei angestrebten Veränderungen sehe ich sofort – ohne bewusste Analyse –… Weiterlesen »
Hallo Andreas, vielen Dank für den Beitrag – Ihre beschriebenen Fähigkeiten finde ich hochinteressant! Umso ernüchternder, dass sie vom Arbeitgeber nicht erkannt werden und das Potenzial letztendlich nicht richtig genutzt wird. Ich kann gut verstehen, dass diese Situation sehr frustrierend sein muss. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass in letzter Konsequenz ein Jobwechsel durchaus positive Veränderungen bewirken kann. Natürlich ist das keine leichte Entscheidung angesichts der Tragweite. Aber wenn andere Bemühungen bisher nichts bewirkt haben und falls auch ein Wechsel innerhalb des Unternehmens nichts bringt, kann ein Arbeitgeberwechsel aus der Sackgasse herausführen und neue Perspektiven eröffnen. Generelle Hilfe zur… Weiterlesen »
Hallo zusammen. Mit geht es genauso. Ich verstehe sofort komplexe zusammenhänge, habe immer die passende Lösung und kann weit im voraus denken. Wenn ich das heute so mache weiß ich direkt welchen Mehrwert das ganze haben wird. Und ich bekomme immer wieder meine Bestätigung das es wirklich so ist . Nur wird es leider immer von anderen zerschlagen. Ich habe gefühlt auf alles eine Antwort aber die Menschen um mich herum können oder wollen das nicht anerkennen. Selbst wenn ich es 1zu1 belegen kann . Und das lässt einen manchmal sehr verzweifeln . Bilde ich mir das alles ein .… Weiterlesen »
Hallo, ich denke, dass du dich dort auf Dauer selbst aufreibst was du auch noch sicher Jahre mitmachen wirst,evtl sind auch noch narzistische Strukturen bei kolegen vorhanden. Dan solltest du alles erkennen und dich evtl. umorientiren.
Ist es das alles wert. Überdenken deine Position. Und das auch aus vielen Blickrichtung
Lg
Hallo Herr Horn, Ihr Artikel ist prägnant in den Punkten, die hochsensible/-sensitive/-sensorische Menschen mit ihren Talenten beschreiben. Arbeit und das Leben müssen „sinnvoll“ sein. Diese Begabung bietet eben Berufsmöglichkeiten vom Somelier, Koch, Friseur bis auch zum Anwalt, Arzt, Coach und Designer- alles was Sinnhaftigkeit oder mit Sinnlichkeit/Haptik verbindet. Architekten oder mancher Ingenieur findet sich auch deshalb in dieser Gruppe, weil die Analysefähigkeit sowie gefühlte Materialinformationen dann die Gebäudestruktur genauso beeinflussen wie die Erfindung von Maschinen oder anderen technischen Möglichkeiten. Ich habe viele Jahre nichts von diesen Begabungen gewusst, bis ich für mich & meinem Sohn in eine mehrjährige Ausbildung zur… Weiterlesen »
Hallo Frau Wunder,
vielen Dank für das Teilen Ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse – und die Berufsbeispiele, bei denen die Fähigkeiten hochsensibler/-sensitiver/-sensorische Menschen besonders hilfreich sein können. An Architekten und Ingenieure zum Beispiel hätte ich zunächst gar nicht gedacht. Interessant! Tatsächlich muss man sich die „Einsatzmöglichkeiten“ seiner Fähigkeiten und individuellen Ausprägungen immer wieder bewusst machen, um neues Potenzial zu entdecken.
Bei vielen Situationen im Beruf dachte ich es läge an mir und ich sei hochsensibel. Als ich eine arbeitsrechtlich Beratung in Anspruch nahm, merkte ich, dass das nicht so ist.
Hallo Herr Horn,
danke für den sensiblen Beitrag 🙂 – Wirklich ein wichtiges Thema, das bisher noch nicht die Beachtung erhält, die es verdient.
Für Hochsensible ist ein Großraumbüro die Hölle. Das haben Sie sehr gut klar gemacht.
Manch ein Büroraumplaner, kann allein durch die Raumgestalter einen entscheidenden Beitrag zur Mitarbeiterbindung leisten.
Mehr Beachtung für dieses Thema, finde ich sehr wünschenswert.
Herzliche Grüße,
Markus Moos
Hallo Herr Moos,
vielen Dank – ja, das Thema scheint bisher noch nicht so präsent zu sein und gerade erst etwas an Bedeutung zu gewinnen. Wir beobachten das mal weiter, vielleicht folgen langfristig noch weitere Blog-Artikel dazu!
Beste Grüße